Karin Ivancsics Interview

Karin Ivancsics und Beatrice Simonsen im Gespräch am 6. November 2014 im Café am Heumarkt in Wien. Das Gespräch wurde anlässlich der Recherche für die Anthologie “Grenzräume. Eine literarische Spurensuche im Burgenland” (edition lex liszt 12, 2015) geführt.

Beatrice Simonsen: Du bist im Burgenland aufgewachsen und lebst heute in Wien. Wie ist das mit der „burgenländischen Identität“, löst sich diese in Wien auf? Was bedeutet das Burgenland für dich heute und was Wien? Siehst du dich als Burgenländerin? Welche Rolle spielt die nahe Hauptstadt im Burgenland deiner Meinung nach?

Karin Ivancsics: Dadurch, dass ich in in Deutsch-Jahrndorf im Dreiländereck (Anm.: Österreich, Ungarn, Slowakei) aufgewachsen bin, war meine Situation noch einmal verschärfter als nur „irgendwo im Burgenland“ aufzuwachsen – in diesem kleinsten Bundesland im Osten an der Grenze, wo es nicht weitergeht. Bei mir war das wirklich so: Du kommst in dieses Dorf rein und du kommst nicht mehr raus. Du musst dich umdrehen, um irgendwo hinzukommen und dieser eine Weg geht immer in den Westen. Für mich als Jugendliche war es unabhängig von Schreiben oder Nicht-Schreiben das Naheliegendste, dass alles nach Wien gedrängt hat. Die Station Deutsch-Jahrndorf bedeutete Endstation, wo du nichts wie raus wolltest und dann über Neusiedl am See, der Bezirkshauptstadt, nach Wien weitergefahren bist.

Da hin ging es zum Studium, das war für alle, die mit mir ins Gymnasium gegangen sind, der normale Weg. Es ist uns gar nichts anderes angeboten worden, außer den Bauern oder anderen, die den Hof ihrer Eltern oder einen Betrieb übernommen haben. Alle, die studieren wollten, gingen nach Wien, das war ganz klar. Die 1970er waren die Jahre des Aufbruchs und der Freiheit, für uns haben sich die Grenzen geöffnet. Mit Öffnung der Grenze meine ich nicht jene zwischen Burgenland und Ungarn oder der Tschechoslowakei, die war ja noch zu, sondern eine Aufbruchsstimmung an den Unis, in der Kunst, in der Sexualität, in allem. Deswegen war für mich Wien der erste Anziehungspunkt.

Das Studium – Germanistik und Romanistik – das ich begonnen, immer wieder gewechselt und nicht abgeschlossen habe, hat mich vom Schreiben eher weggebracht. Diese Universitätsatmosphäre und das Umgehen mit den Studenten wie mit Schülern, wie mit Gymnasiasten, nur auf einem höheren Niveau, hat mir überhaupt nicht getaugt. Wir hatten zwar Wendelin Schmidt-Dengler als Professor, aber er als einziger konnte das System nicht retten, so dass du wirklich gern hingehst und etwas „mitnimmst“. Mir hat das Studium nicht sehr behagt, ich hab es dann auch von einem Tag auf den anderen geschmissen und bin weitergezogen. Meine nächste Station hieß Paris.

Ich wollte eigentlich keine Burgenländerin sein. Es war mir nur recht in die große weite Welt zu gehen, um dieses Kleine, dieses Enge – trotz der Weite der Landschaft – das das Burgenland für mich bedeutete, zurückzulassen. Meine halb-kroatische Herkunft war für mich als Kind und Jugendliche problematisch. Ich hatte das Gefühl, dass man im Burgenland immer „auf Minderheiten“ schaut: Wer passt oder wer passt nicht in die Dorfgemeinschaft, in die Region? Wer ist anders? Wir waren ja „Zugezogene“ und ich als „Halb-Krowodin“ hab das zu spüren gekriegt, dass das in Deutsch-Jahrndorf nicht so angesagt ist. Es gibt ja viele Burgenland-Kroaten, aber die konzentrieren sich auf bestimmte Ortschaften. Der Bus, mit dem wir Kinder zur Schule gefahren sind, ist in Kittsee gestartet, dann ging es nach Pama, Deutsch-Jahrndorf, Zurndorf, Gattendorf, Neudorf, Parndorf, Neusiedl. Und kurz vor Neudorf, das überwiegend kroatisch war und auch heute noch ist – das ist übrigens interessant, dass es in diesen Dörfern sehr selten Durchmischungen gibt – also kurz bevor wir in diese Ortschaft eingefahren sind, wurde immer ein Singsang angestimmt: „Grün und rot scheißt der Krowod, pass auf jetzt wird’s gleich stinken, die Krowodn kumman.“ Und ich als Halb-Kroatin – die zwar nicht Kroatisch sprach, weil unser Papa uns das nicht beigebracht hat, der seine Gründe dafür hatte – hab mich innerlich zurückgezogen. Ich wollte nicht zu denen gehören, als „Halbe“ hab ich mich von den „ganzen“ Kroaten distanziert, obwohl du als Kind oder Jugendliche spürst, dass das nicht in Ordnung ist. Ich habe zum Beispiel immer vermieden, meinen Nachnamen zu sagen, wenn man mich gefragt hat: Wie heißt du? Wer bist du? Oder wem „gehörst“ du?, wie man im Burgenland sagt. Es war mir irrsinnig peinlich „Ivancsics“ sagen zu müssen, weil ich damit quasi entlarvt war. Das ist mir erst später klar geworden. Da ist mir aufgefallen, dass das ziemlich schlimm ist, weil du gerade als Jugendliche deine Identität suchst: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo will ich hin?, und bei diesen Fragen eine Hälfte von dir verleugnest. Das vielleicht noch zusätzlich, warum ich vom Burgenland weg wollte. Als Jugendliche hast du nicht die Kraft oder die Möglichkeiten dich zu behaupten, du fühlst dich ja auch allein, als „eine Halberte“ und keine Ganze. Das hat sicher etwas mit mir gemacht.

Eigentlich bin ich da erst in Wien draufgekommen, weil in Wien ist es wurscht, wie du heißt. Da waren noch viele andere mit böhmischen, kroatischen und tschechischen Wurzeln und mit komischen Namen, die „Tschitsches“ sozusagen (lacht). In Wien bist du zwar als Ausländerin eingestuft worden, warst aber nicht gleich als Kroatin erkennbar. Ich glaube, dass mein Interesse für „die Sprache“ einen Zusammenhang damit hat. In der Schule war mir sehr daran gelegen, in Deutsch gut und besser zu sein als die anderen – aus diesem Mangel der „Halberten“. Ein Mangel, der ja keiner ist, im Gegenteil, der zu etwas Großem hätte ausgebaut werden können, Minimum: zweisprachig aufzuwachsen. Damit dieser Mangel nicht entdeckt wird, hab ich versucht in Deutsch zu brillieren. Ich hatte einen tollen Lehrer und war die Herzeigedeutschschülerin. Das hat schon mit Identität zu tun: Am Rand aufwachsen und sich profilieren und sich als schön rein Deutsch sprechende junge Frau herausstellen, die sich artikulieren kann.

Thematisch hast du dich in deinen Büchern aber nicht damit auseinandergesetzt, soweit hat dich das nicht beschäftigt?

Es gibt Essays über das Thema, wenn ich zu Anthologien „als Burgenländerin“ eingeladen wurde. Zum Beispiel „Schriftstellerinnen sehen ihr Land“ (Anm.: 1995) für den Österreich- Schwerpunkt auf der Buchmesse, von Barbara Neuwirth herausgegeben. Da hab ich schon das Burgenlandthema und meine kroatische Herkunft verarbeitet, aber nicht so, dass ich ein ganzes Buch daraus gemacht hätte, ich war ja dann weg aus dem Burgenland. Wien war meine neue Heimat, wo ich als Schrifstellerin meinen Weg gegangen bin. Ich hab das Burgenland eher sehr mager bestückt mit Literatur gesehen, an die ich mich hätte herantasten können oder wo ich Anregungen bekommen hätte. Da war nicht viel zu der Zeit, ich kann mich an gar nichts erinnern, außer an Hertha Kräftner natürlich. Ich bin an manchen Wochenenden hingefahren, aber das wurde weniger und weniger. Ich bin immer mehr von Wien aus in die Welt hinausgegangen, mir wurde auch Wien zu klein und Österreich und Europa (lacht). Ich wollte noch weiter, möglichst die ganze Welt entdecken, das war immer mein Wunsch.

Meine Großmutter, die ich sehr geliebt habe, bei der ich zwischen dem erstem und dritten Lebensjahr im Südburgenland aufgewachsen bin, war ja einige Jahre in Amerika. Sie hat – wie ihre Schwestern auch, die nach New York und Chicago gegangen sind, wie so viele damals – als Haushälterin bei einer jüdischen Familie in New York gearbeitet. Und sie hat mir schon als Kind die Fotos gezeigt, wo sie fantastische Riesen-Hüte und tolle Kleider trug. Es gab bei ihr in der Scheune den großen Amerika-Koffer, so einen Schiffskoffer, der mit wertvollen Kleidern und mit ihren Geschichten voll war. Durch die Geschichten der Großmutter, die „drüben“ war und der es dort gefallen hat, hat es für mich immer einen großen Reiz gehabt, hinauszukommen aus dem Burgenland. In New York haben zwei Schwestern von ihr gelebt und die eine hat sie mit 63 Jahren noch besucht, da ist sie zum ersten Mal ins Flugzeug gestiegen, meine Oma.
Was mich betrifft, war es einerseits die Großmutter mit ihren Geschichten und die Besuche der Onkeln und Tanten, die diese Sehnsucht geweckt haben. Das war wirklich so: Der Onkel aus Amerika ist da! Wie du dir das klassisch vorstellst! Der ist gekommen und hat seine Koffer ausgepackt und hat Geschenke mitgebracht, die gefunkelt und geleuchtet haben und die wir nicht gekannt haben.

Andererseits ist es vielleicht auch dieses Herumziehen der Kroaten, das ich von der Seite meines Vaters geerbt habe. Die Kroaten sind ja schon im 16. Jahrhundert ins Burgenland gekommen, um auf den Gütern zu arbeiten. Sie sind zuerst herumgezogen und haben dann von den Lehnherren Häuser zur Verfügung gestellt bekommen. Weil sie im Dorfverband nicht so gern gesehen waren, haben sie – wie wir wissen – auf der „Puszta“ gearbeitet. Da hatten sie mehr Rechte und Ansehen als die normalen Dorfknechte. Ich hab dann angefangen, nachzuforschen, wo die herkamen bei uns im Süden. Mein Papa war aus Güttenbach, kroatisch Pinkovac, meine Mutter aus St. Michael, der Nachbargemeinde, wo ich als Kind eben viel Zeit verbracht habe. Und ich habe mich gefragt, warum sind die so getrennt? Du fährst zehn Minuten mit dem Rad von hier nach dort und hast hier die kroatische und dort die Deutsch-sprechende österreichische saubere Gemeinde. Diese Vorurteile kommen von meiner deutsch-österreichischen Verwandtschaft. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass mir das nie gefallen hat und es gefällt mir heute noch nicht, dass sie diese Vorurteile pflegen: Die „Krowodn“ sind schlampig, versoffen und laut, vor allem laut. Ich als Kind fand es herrlich, bei kroatischen Hochzeiten oder anderen Festen dabei zu sein, für mich waren die viel lustiger und bunter! Aber für mich hieß es: Halt besser Abstand, mein Kind, die sind zu laut … Und natürlich haben alle den Akzent gehabt, das g und das k, das sie immer verwechselt haben: „Die Gotz sitzt auf da Göllerstiagn.“ Das war auch so ein Spruch! Wenn jemand einen kroatischen Akzent hatte im Gymnasium, haben die Lehrer das sehr wohl bemängelt und die Mitschüler haben sich darüber lustig gemacht.

Also war ich im Burgenland immer hin-und hergerissen, in Wien und auf Reisen mit so vielen verschiedenen Nationalitäten hab ich mich wohler gefühlt, ich war nicht so exponiert wie in diesem kindlichen Umfeld.

Heißt das, dass sich durch das Weggehen diese burgenländische Identität aufgelöst hat?

Nein, ich hab dann meinen Namen gerne geführt. Das war ein großer Schritt zu sagen, „Ivancsics, das ist ein schöner Name.“ Er klingt und er heißt was und ich würde ihn nie wieder tauschen wollen! Ich kann zu diesem Namen jetzt stehen mit all dem, was ich erlebt habe und damit in Verbindung bringe. Mir tut es vor allem leid, dass ich die Sprache nicht gelernt habe, das ist ein großes Versäumnis. Aber ich habe nicht die Kraft oder die Zeit, das aufzuholen, obwohl ich glaube, wenn du dich auf die Sprache einlässt, dann entsteht noch einmal etwas. Dann wäre es möglich, dass ich von meiner kroatischen Seite noch mehr erfahre.

Nimmst du eine burgenländische Literatur wahr oder ist es nicht sinnvoll, diese einem geographischen Raum zuzuordnen?

Was mir sehr gut gefällt, wenn ich etwas höre oder lese von burgenländischen Autorinnen oder Autoren, dann ist es das sogenannte Lokalkolorit, das sich in verschiedenen Formen im Text widerspiegeln kann – durch die Gebäude der Sprache, durch die Diktion, die hinter so einem Text stecken kann.

Was meine Schriftstellerei betrifft, ist es so: Wenn man mich heute fragt, woher ich aus Österreich komme, dann nenne ich mittlerweile lieber das Burgenland als Wien, das ist interessant, nicht? Ich bekenne mich doch zu dem, wo ich eigentlich herkomme. Das hat auch damit zu tun, dass ich seit acht Jahren ein kleines Sommerhaus in Deutsch Jahrndorf besitze – ich kehre also teilweise zurück zu meinen Wurzeln und setze mich neu mit den Gegebenheiten auseinander, unter anderem bin ich gerade dabei einen Essay-Band zu Burgenlandthemen und zu meiner Herkunft zu verfassen. Es ist mir lieber als burgenländische Autorin wahrgenommen zu werden denn als Wiener Autorin.

Die Autorin Karin Ivancsics wurde 1962 in St. Michael im Burgenland geboren. Publikationen siehe www.karinivancsics.at