Porträt des italienischen Autors Vincenzo Consolo
für die Zeitschrift BUCHKULTUR (Nr. 106 / 2006) von Beatrice Simonsen
Ohne ihre aus Sizilien stammenden Autoren wäre die italienische Literatur um einiges ärmer: Giovanni Verga, Luigi Pirandello, Tommasi di Lampedusa oder Leonardo Sciascia haben wichtige Werke der Weltliteratur geschaffen. Auch der 1933 in Sizilien geborene Vincenzo Consolo gehört mit seinen ebenso anspruchsvollen wie kritischen Büchern zu den wichtigsten zeitgenössischen Autoren Italiens.
2005 erschien nun „Retablo“ (in deutscher Übersetzung von Maria E. Brunner), aus dem Jahr 1987, ganz in Stil und Sprache des 18.Jahrhunderts, ein Roman der sich in Form und Motiven an einem Retabel – einem dreiteiligen Altaraufsatz – orientiert und von den „Wunderdingen“ des Lebens und „aller irdischen Vergänglichkeit“ erzählt. Hintergrund ist ein ziemlich provinzielles Sizilien zur Zeit der Aufklärung. Die Paläste und Kirchen, die Don Fabrizio Clerici, der Sprößling einer reichen Mailänder Dynastie, aufsucht, glänzen in barocker Fülle. Don Clerici flieht ebenso wie sein sizilianischer Diener Isidoro eine unerwiderte Liebe und sucht Zerstreuung in einer Bildungsreise. Nicht Ereignisse bestimmen die Handlung sondern Betrachtungen über das Leben. Die Begegnungen mit Menschen, Hirten, Straßenräubern, Klosterbrüdern, Adelsherren und Händlern dienen nur dazu, die vergangene Kultur, ihre Tücken und ihre Leistungen zu reflektieren. Vinzenzo Consolo bedient sich dazu einer artifiziellen, ironisierenden Sprache, die das Lesen zu einem geistvollen Genuss macht, sofern man sich der zahlreichen Anspielungen quer durch die Kulturgeschichte Italiens bedienen kann. Der Roman beginnt mit einem Zitat Goethes aus seiner „Italienischen Reise“, ist nach dem Vorbild des Manzoni-Klassikers „I Promessi sposi“(der in Italien bis heute Pflichtlektüre für Schulkinder ist, wie Goethes Faust in Deutschland) eine zeitverschobene Gesellschaftskritik, schickt wie Cervantes ein Gespann à la Don Quichote und Sancho Pansa auf die Reise (mit Anspielung auf die spanische Vergangenheit Siziliens) und spottet der Behauptung des Dichterfürsten Dante, in Sizilien sei die italienische Literatursprache beheimatet.
Im Gespräch mit Vincenzo Consolo in einem Wiener Kaffeehaus bedaure ich sofort, dass ich den vor mir ausgebreiteten Wissensschatz des Autors (dank der prompten Übersetzung von Maria E. Brunner) nicht in seiner Gesamtheit werde vermitteln können, weshalb man mir die arge Kürzung verzeihen möge. Die erste Frage, warum beinahe alle sizilianischen Literaten aus ihrer Heimat fortgingen, beantwortet Herr Consolo mit: „aus intellektueller Neugier, weil man an der Peripherie Europas lebt“. Die Suche nach einem kulturellen und sprachlichen Zentrum führte die meisten nach Florenz, Mailand oder Rom. „Nach Sizilien zurückgekehrt ist nur Verga, enttäuscht von seiner Suche nach einer imaginären Heimat, die durch den Kontrast mit der Wirklichkeit zerstört wurde.“ Consolo selbst hoffte, in Mailand soziale Gerechtigkeit und weniger Korruption zu finden: „Das hat sich leider anders entwickelt.“ Heute fühlt er sich hin- und hergerissen zwischen zwei Welten, „smarrito“, verloren. Er schreibt jedoch nur über Sizilien, dem Ort der „sprachlichen Erinnerung“.
Drei seiner Romane erzählen von verschiedenen geschichtlichen Abschnitten: „Retablo“ spiegelt das Zeitalter der Aufklärung wieder, „Bei Nacht, von Haus zu Haus“ behandelt die Zeit vor der Machtergreifung durch die Faschisten und „Lo spasimo di Palermo“ (die Übersetzung des Romans ist in Vorbereitung) ist ein Roman über die „Gewalt der Geschichte“, Korruption, Mafia und politischen Terror bis in die heutige Zeit.
Vincenzo Consolo findet scharfe Worte für Berlusconi, den er als „eine obszöne Maske“ bezeichnet. „Die italienische Gesellschaft ist herabgewirtschaftet: ethisch, politisch, ökonomisch, kulturell …“ Der literarischen Tendenz der hoch politisierten Linken der 70er Jahre, als nur politische und philsosophische Essays etwas galten, hat Consolo sich nicht angeschlossen. In seinen Augen fehlte der Aufdeckungsliteratur, wie etwa Leonardo Sciascia sie betrieb, etwas Wesentliches: die Poesie. Sciascias Antwort auf die Kritik des Freundes: „Desto schlechter für die Poesie“, erzählt Vincenzo Consolo lächelnd.
Sein Ziel ist die Wiederaufwertung der Literatur als Kunstwerk. Er will „zeigen, dass nur die Literatur die großen Gefühle und Gedanken ausdrücken kann. Die Ideologie ist wichtig als Basis der Literatur, eine politische Vision der Welt muss da sein für einen Schriftsteller, aber die Literatur kann darüber hinaus noch mehr!“ Dabei wird eines unbedingt vorausgesetzt: Bildung. Jemand, der die vielen Anspielungen in „Retablo“ überliest, hat nur das halbe Vergnügen. „Italo Calvino hat einmal gesagt: ich brauche einen Leser, der mehr weiß als ich. Früher war der Roman eine Art Dialog zwischen Autor und Leser, heute ist es ein Monolog“. Dafür braucht Vincenzo Consolo eine poetische, rhythmische, fast schon lyrische Sprache, die durch philologische Recherche entsteht. Er sucht Vokabel aus dem Griechischen, Arabischen, Spanischen – den Wurzeln des Sizilianischen – die heute kaum mehr in Gebrauch sind, wobei es sich aber nicht um „Dialektmanierismus“, sondern um ein „stilistisch poetisches Register“ handelt. Er ist sich dessen bewusst, dass er dazu einen geduldigen Leser braucht, der jedoch mit vielen Zitaten aus wichtigen Texten der Weltliteratur, mit literarischen Erinnerungen belohnt wird, sagt der Autor und zieht noch schnell ein paar Gedankenstriche von Homer über Stendhal bis hin zu T.S. Eliot.
„Es sah, wer konnte, wer wollte und sich darauf verstand / Im Retabel voller Wunder …“ – was von einem Geschichtenerzähler deklamiert wird, trifft genau auf den Roman selbst zu. „Retablo“ kann als historischer, metaphorischer Roman, als hyperliterarischer Text, als Palimpsest gelesen werden, wie Maria E. Brunner im detaillierten Nachwort erklärt, „Retablo“ ist aber auch einfach ein philosophischer, sprachlich exquisiter Roman.
Beatrice Simonsen
Vincenzo Consolo: „Retablo“, Folio Verlag, Wien Bozen, 2005
Ein hochartifizieller Roman voller Anspielungen auf die italienische Kulturgeschichte, zugleich ein Hohelied an die Illusion: es siegt die Illusion der Liebe, nicht die Liebe selbst und „Veritas“ erscheint als marmorne Statue. „Schön, die Wahrheit“, wird mehrmals wiederholt und aus der Wiederholung entsteht Ironie.
Auf Deutsch erschienen:
„Das Lächeln des unbekannten Matrosen“, Insel Verlag, Köln, 1984
„Die Wunde im April“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1990
„Die Steine von Pantalica“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1996
„Bei Nacht, von Haus zu Haus“, Folio Verlag, Wien Bozen, 2003