Interview mit Bora Ćosić

Über den Wolken: Beatrice Simonsen im Gespräch mit Bora Ćosić in BUCHKULTUR (2008)

„Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ ist im deutschsprachigen Raum Bora Ćosić’ bekanntestes Werk, mit desssen grotesk-satirischem Stil er sich eine begeisterte Anhängerschaft schuf. Seit der Autor in Berlin lebt, sind viele seiner Bücher auf Deutsch erschienen, zuletzt „Die Vogelklasse“, ein, wie Beatrice Simonsen meint, atypisch ernstes Buch. Bora Ćosić und seine Übersetzerin Katharina Wolf-Grießhaber erhielten im April 2008 den Literaturpreis „Albatros“ der Günter-Grass-Stiftung.

Beatrice Simonsen: Als Sie 1932 geboren wurden, war Jugoslawien ein Königreich. Sie hatten eine österreichische Großmutter, sind in Zagreb geboren und haben hauptsächlich in Belgrad gelebt. Ihr Buch „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“, das Sie bekannt gemacht hat, erschien 1969. Es zeigt anhand einer kleinen Welt (Ihrer Familie) die Umwälzungen in der großen Welt Jugoslawien. Der Wandel von einer bourgeois-konservativen Haltung hin zum verbotenen Flirt mit dem Kommunismus und der Nachkriegsarmut wird durch die verschiedenen Denkhaltungen in der Großfamilie vom Opa über den Onkel, die Tanten, Vater und Mutter bis hin zur vielfältigen Erziehung des Buben Bora – wie ich annehme – deutlich. Sie hatten nach Erscheinen dieses Buches Publikationsverbot, ist das richtig?

Bora Ćosić: Sie kennen meine Familienverhältnisse sehr gut. Dazu hat meine übertriebene Geschwätzigkeit beigetragen, was habe ich nicht alles über meine Kindheit erzählt, eine Zeitlang hat sich meine Verwandtschaft sehr über mein Schreiben geärgert. Aber letztendlich habe ich nicht nur über meine Familie schlecht geredet, sondern auch über die Verhältnisse, die historischen, in denen wir lebten. Es stimmt daher, daß ich nach der Publikation «Die Rolle meiner Familie» und trotz des Preises, den das Buch bekam, mehrere Jahre nicht veröffentlichen konnte.

Sie sagten an anderer Stelle, dass man in den 50er Jahren freier publizieren konnte als in den 70er Jahren. Ist Tito im Laufe seiner Diktatur „strenger“ geworden?

Sie müssen wissen, daß der jugoslawische «weiche Sozialismus» eine irgendwie neurotische Beziehung zur Kultur hatte. Zeitweise gab es genug Freiheit, später, nach einem Parteiplenum, wurden die Zügel wiederum straffer angezogen, es gab Verbote und Repressionen. Dann ließ man die Zügel wieder leicht schleifen, die Kulturpolitik des Kommunismus ist ein Weg auf und ab. Das bezieht sich auch auf die eigene Politik Titos gegenüber der Kultur, auf seine persönliche Haltung in diesem Bereich. Er war ein komplizierter, manchmal ambivalenter Mann. Er liebte es, mit internationalen Filmstars Umgang zu pflegen, auf dem Klavier zu improvisieren, er duldete keine Opponenten, aber er klopfte auch nicht unbedingt mit dem Schuh auf das Rednerpult der Vereinten Nationen wie Chruschtschow. Tatsächlich sind Diktatoren nicht immer so schlecht für die Künstler, wie man das im Allgemeinen annimmt.

Sie haben sich 1992 mit Kriegsbeginn aus Belgrad nach Kroatien zurückgezogen, waren immer ein offener Gegner der Politik Milosevic’. War es für viele Jugoslawen nicht auch schwierig, sich neu als Serben, Kroaten, Bosnier usw. zu definieren? Leben Sie in Berlin, weil Sie den Bezug zu Ihrer Heimat verloren haben?

Serbien habe ich ohne Druck, aus freien Stücken verlassen, es gefiel mir nur nicht, unter diesem Regime zu leben. Deshalb hatte ich ebenso wie meine von der nationalistischen Verblendung befreiten Mitbürger keine Schwierigkeiten, meine ethnische Herkunft zu definieren, ich betrachte sie auch weiterhin als Zufall, ich hätte auch als Tibetaner auf die Welt kommen können. In Berlin lebe ich auch, weil mir das Berliner Milieu entspricht, meine Verbindung zur ehemaligen Heimat habe ich nicht ganz verloren. Manche von denen, die dort geblieben sind, haben diese Verbindung in einem noch größeren Maße verloren.

In einem anderen Interview sagten Sie, dass Sie Berlin lieben. Warum?

Meine Neigung zu Berlin hat vielleicht auch etwas Irrationales an sich. Aber der Mensch ist nicht immer imstande zu erklären, wie es kommt, daß er sich (selbst in späteren Jahren) in eine bestimmte Person verliebt, das bezieht sich wohl auch auf eine Stadt, ein Milieu. Ungeachtet der bekannten Umstände, daß Berlin imstande ist, Flüchtlinge aus allen Himmmelsrichtungen unterzubringen, verstehe ich diese Stadt nicht als Ort meiner Verbannung, sie ist der Ort meines Aufenthaltes, meines aktuellen Lebens.

2002 sind Sie mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet worden, wurden als Vertreter Serbiens als „Brückenbauer zwischen verschiedenen europäischen Kulturen und Traditionen“ gefeiert. Wie sehen Sie heute 2008 Serbiens Zukunft?

Es ist nicht gerade dankbar, ein derart kompliziertes, fast problematisches Milieu, wie es das serbische ist, zu vertreten. Es ist viel Mühe vonnöten, um die Umwelt davon zu überzeugen, daß in Serbien nicht unbedingt alles zunichte gegangen ist, daß nicht alle Menschen dort negative Individuen, bereit zum Bösen, sind, daß es immer noch ein Gebiet von uns, von Europa ist, das man nicht wegwerfen darf. Manchmal bemühe ich mich, das Leuten, die es interessiert, zu sagen. Nur daß jeder Mensch, meine ich, in erster Linie sich selbst vertritt. 2008 ist mir die Zukunft meines ehemaligen Landes leider nicht klar, nur Dichter wird es immer geben, ich hoffe auch dort. Dort erscheinen zum Glück immer noch Bücher, spielt man Theater, dreht man Filme. Ich kann nicht sagen, daß es dort gar keine Freiheit gebe, eher sind die Horizonte vernebelt und die Menschen willenlos und unentschlossen, irgend etwas zu tun. Dennoch ist es auch dort möglich, auf eine geistige Erneuerung zu warten, obwohl es nicht leicht sein wird. «Man muß wieder Hoffnung schöpfen», hat schon vor langer Zeit ein serbischer Dichter geschrieben…

Ihr neues Buch „Die Vogelklasse“ wird nicht von diesem inneren Humor getragen, es ist viel ernster als  die Bücher, die ich von Ihnen kenne. Wiewohl der Kerngedanke Ihrer Arbeit, nämlich aus dem Universum einer kleinen Welt auf die große zu schließen, hier wiederkehrt. Der Gedanke hat mich nicht losgelassen, dass „Die Vogelklasse“ eine Parabel auf Jugoslawien sein könnte.

Es betrübt mich, wenn Sie «Die Vogelklasse» als todernste Lektüre, ohne jeden Humor, verstehen. Sie ist eine Erzählung, eine etwas närrische, aber keinerlei Kodex. Genausowenig meine ich, darin mein Bild von meiner ehemaligen Heimat versteckt zu haben. Es ist eher eine Fabel über die menschliche Natur und über eine Institution unserer europäischen Zivilisation. Das Gymnasium ist seit der Antike eine erstaunliche, absolut unklare Umgebung. Denn was geschieht denn in irgendeiner Schule, in irgendeiner Lehranstalt unserer Erfahrung? Dort spielt sich kein bestimmtes «Leben» ab, sondern die Vorbereitung darauf, wie wenn man an einer Theaterprobe teilnimmt und es bis zur Premiere noch lange hin ist. Aber unsere ganze Geschichte und alle ihre Versionen kann man metaphorisch verstehen, wie es gefällt.
(Übersetzung von Katharina Wolf-Grießhaber)

Bora Ćosić: “Die Vogelklasse”, Übersetzung aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber, Folio Verlag, Wien Bozen, 2008